Sonntag, Juli 8

Letzten Sonntag

Wenn jemand allein in den Zug steigt, hat das für mich etwas unbestechlich Pathetisches. Ich mag Pathetik, ich mag den Westbahnhof. Ich sitze dort manchmal, auf einer Bank, um auf jemand zu warten, stöpsle meine Ohren mit Mey zu und ergötze mich an den Leuten und am heißen Betonboden. Man kann dort, auf Bänken sitzend, das Wesen der Menschen beobachten. Jemand geht, jemand weint. Davor heftiges, ehrliches Knutschen.
Der Kerl ist heute für 2 Wochen weggefahren. Wir haben auch geknutscht, aber wir kennen den Abschied schon. Wie oft haben wir abschiedsgeknutscht und sind tränend davon gewankt, jeder für sich.
Er muss für 2 Wochen in die Pampa, um Boden, Fluss und Wald vermessen zu lernen. Er wohnt dort im Internat einer Bergbauernschule; ja, soetwas gibt es. Mit mittlerer Reife, 3 mal täglich Fleisch aufm Teller, gratis Wuzeltischen und Badestelle an der Ybbs.
Als ob ich dem Alleinsein trotzen wollte, ging ich erstmal 2 Stunden spazieren; ganz allein. Mit einer Decke in der Hand, auf der Suche nach Grünfläche. Da möchte man wieder in Stuttgart wohnen, also nur für den Fall, dass man mal Grünfläche braucht, die Stuttgarter haben jedenfalls mehr davon als die Wiener. Und Enten dazu.
2 Stunden alleine durch eine Stadt zu spazieren, kann viel verändern. Ich verstehe, warum es Leute Mitte 30 aufs Land zieht. Mich zieht es auch. Mal 1-2 Jahre Meer, Küste, Leere. Eine andere Sprache, um die eigene zu finden. Liebe, Salat, Fisch. Diese Dinge.

Diesen Sonntag
Nach einem Wochenende der Wiedersehensfreude, gegrilltem Lachs-Steak, teurem Sommelier, Ringlotten und Waldviertler Marillen vom Naschmarkt und 2 tollen Filmen in frischbezogener Bettwäsche und einer WG-Sitzung, die zwar erfolgreich, aber nach meinem Empfinden mit zuwenig Emotionalität betrieben wurde, viel zu spät, mit voller Blase zum Bahnhof gelaufen, gerade mal bis zur vorletzten Ampel, den Kerl kurz geküsst, ihm und seinem Riesenrucksack nachgesehen, zwei Tränen weggewischt, heimgelaufen, Toilette. Kein Bankerlsitzen, kein Mey, kein Bahnhofspathos. Aber Liebe, Salat, Fisch, alles.

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