Freitag, Mai 18

Zeitzeugin in der Straßenbahnlinie D

Heute meine Arbeit abgegeben, auf dickem Papier gedruckt*, Spiralen an der Seite, Folie obenauf, tipptopp. Blöde neue Sekretärin "kennengelernt", dringend auf Toilette gemusst, Helgekarten zurückzugeben vergessen, Bim gefahren.

Ursachen eines chronischen Bandscheibenleidens

Ein junge Frau bietet einer älteren Dame nach alter Sitte ihren Platz an. "Nein, danke, ich habs mit den Bandscheiben, ich stehe lieber, sonst komm ich nicht auf."
Pause, dann stolz:
"Ich bin ja schon 99."
Pause, jetzt vorwurfsvoll:
"Und ich war fünf Jahre im KZ!"

Kollektiver Schock im Waggon.
Ausnahmslos alle halten den Atem an. Klassisches Stecknadel-Phänomen. Ich verkrieche mich intuitiv in meinem Ellenbogen und lausche gespannt.

"Heute will ja niemand Schuld sein! Die Österreicher erst recht nicht! Dabei haben sie damals den Boden geküsst, vorm Parlament."

(Waggon D fährt gerade am Parlament vorbei.)

Ich stehe im toten Winkel der Dame und kann die Frau nicht sehen, sie spricht weiter:

"Fast hätten sie mir die Hände amputiert, so abgefroren waren die! Kann sich ja niemand mehr vorstellen."

Ich lehne mich vornüber gegen einen Pfosten, versuche ums Eck zu schielen, um diese Dame zu Gesicht zu kriegen, von der ich bis jetzt nur die warme, angenehme Stimme vernehmen konnte, sehe aber nichts und bin sehr froh, dass sie nicht mit mir spricht.

Atem anhalten, Augen schließen.

Der netten, jungen Dame (in deren Haut in dem Moment wohl keiner im Waggon der Straßenbahnlinie D stecken will) fällt dazu folgender Satz ein:
"Aber jetzt gehts ihnen wieder gut?"Sie sagt es mit Mitgefühl, sie trägt dieses Gespräch tatsächlich mit Fassung. Mit diesem kleinen Satz beruhigt sie die Lage und die ältere Dame ist zufrieden.

Als beide aussteigen erhasche ich endlich einen Blick.
Die ältere Dame sieht aus wie 75, schönes straffes Gesicht, weiße Haare, fein nach hinten gesteckt, Mantel. Sie trägt sogar Stöckelschuhe mit Absatz. Eine edle, vornehme Dame mit freundlichen Zügen.

Und mein Leben?

Nach Hause gekommen, Schlüssel vergessen, zehnmal geklingelt, raufgelaufen, Toilette, Tretris, Zigarette, Pläuschchen mit k und j², chaotische Wohnung, b motivieren, gemeinsames Aufräumen, Apfelkuchen, Kaffee. Hiersitzen und denken, das Leben geht einfach weiter, nie bleibt es stehen und hält solche Momente fest.

Danach passiert vielleicht noch einkaufen, kochen, essen, Helgekarten umtauschen, Lesen, Gilmoregirls. Siedler, Rotwein.

So geht mein Leben, während ich so alt bin, wie sie damals war.
____________
*Danke, j².

Keine Kommentare: