Sonntag, Jänner 14

5 Schlossberg

Auf einem Berg, vielleicht dort wo früher ein Schloß stand, steht jetzt ein Krankenhaus. Mit Glastüren, die sich drehen. Seit ein paar Jahren fahren die Rettungsautos rund um einen Kreisverkehr. In der Mitte des Kreisverkehrs hat die Städtische Gärtnerei gelbe und violette Stiefmütterchen aufgereiht. Schlossberge gibt es viele. In Linz, in Graz und in Bregenz. Dieser hier ist anders.

Sommer 1977.

Ein knapp sechzehnjähriges Mädchen mit schwarzen langen Haaren und runden Hüften, die später eine Bachblütenhexe werden soll, geht dort zur Krankenpflegeschule. Sie wohnt auf dem Berg in einem kleinen Zimmer und lässt sich von Klosterschwestern, die aussehen wie Pinguine, in Anatomie unterrichten. Für sie ist das revolutionär, weil ihre Freundinnen Friseurinnen und Verkäuferinnen geworden sind.

Für diesen Traum musste sie ihren Lebensbegleiter Pascha zuhause bei ihrer Mutter und viele Kilometer hinter sich lassen. Bis dahin hatte er sie jeden Tag zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Es war ein kleiner brauner Dackel, der im siebzehnten Jahr an Lähmung starb.

Von den fünfhundertdreißig Schillingen, die sie jeden Monat kriegt, kauft sie sich in der Stadt Strümpfe und Haarshampoo. An den Wochenenden kommt sie zurück zu Pascha, lässt ihren Koffer im Vorraum fallen und schert sich bis Sonntag Abend nicht mehr darum. Sie sitzt das ganze Wochenende auf der Wohnzimmercouch, sieht alte Liebesfilme und weint dazu. Der Dackel sitzt hingebungsvoll neben ihr. Ihre Mutter bügelt einstweilen ihre Wäsche und schüttelt von Zeit zu Zeit den Kopf.

178 Kilometer weiter lebt jemand, der sie noch in diesem Sommer von den alten Liebesfilmen befreien soll. Er wohnt in einem winzigen Zweihundertseelendorf. An Samstag Nachmittagen liegt er so lange in der Badewanne und singt zum Fenster raus, bis seine Mutter laut an die Badezimmertür zu klopfen beginnt. Das Badezimmer besitzt noch keine Fliesen und in der Mitte steht ein großer Kesselofen, den man einheizen muss, bevor man heißes Wasser braucht. Wenn er abends ausgeht, steckt sie ihm Geld zu. Er trägt gelbe Hemden und ein weißes Sakko mit goldenen Knöpfen. Mit dreizehn Jahren musste er autofahren lernen, um seinen betrunkenen Vater vom Wirtshaus heimfahren zu können.

Während er seinen Vater die Treppen hinaufhievte, trainierte das Mädchen mit den schwarzen Haaren Judo und erkämpfte sich den schwarzen Gürtel. Das schob sie zwischen die Liebesfilme und die pinguine Anatomie. Auch das war revolutionär.
Sein Vater zieht ins Waldviertel und niemand muss mehr vom Wirtshaus heimgefahren werden. Irgendwann wird er neunzehn und eingezogen. Wochentags sitzt er zigarettenrauchend in einem grasgrünen Panzer und an den Wochenenden in einem Lokal namens Katzenkeller neben der Musikbox und trinkt Ribiselwein. Irgendwann hängt ein Plakat an den Wänden des Kellers: Judowettkampf.

Am Abend nach dem Kampf sitzt das Mädchen mit den schwarzen langen Haaren im Katzenkeller und trinkt Ribiselwein. Am Nebentisch sitzt einer mit goldenen Knöpfen und hat bereits vierzehn Achtel Ribiselwein getrunken, als er sie zum Tanzen holt.
Nach seinem siebzehnten Achtel küssen sie sich.

Sie geht schlafen und er sagt: „Wir treffen uns morgen Mittag bei der großen Kreuzung.“

Es ist die Woche vor ihrem sechzehnten Geburtstag. An diesem Sonntag zu Mittag zieht sie ihren schönsten Rock an und sucht nach einer großen Kreuzung. Sie geht die staubige Straße entlang und sucht nach einer großen Kreuzung, mit Ampel.

In diesem Zweihundertseelendorf gibt es keine Ampel und auch keine Verkehrsschilder. Sie geht die Straße entlang. Einen braunen Hügel hinunter, einen grünen hinauf. Auf der Suche nach einer großen Kreuzung, die ihren revolutionären Begriffen entspricht. Einer Ampel. Dann setzt sie sich auf eine Bank und wartet.

Er sucht sie, bis er sie auf der Bank sitzen sieht. Er setzt sich neben sie und lacht. Weil sie eine Ampel gesucht hat.

Das war im Sommer 1977. In diesem Jahr starteten die Raumsonden Voyager I und II, in Frankreich wurde die letzte Hinrichtung mit der Guillotine durchgeführt und die RAF tötete Hanns Martin Schleyer.

Die beiden auf der Bank sind meine Eltern geworden. Im Jahr 1981 wurde ich als dreihundertachtundneunzigstes Baby in dem Krankenhaus auf dem Schlossberg geboren.
Sie trafen sich durch einen schönen Zufall. Sie lernten sich lieben und hassen. Im ersten Jahr schrieben sie sich 413 Briefe. Das erste Lied, zu dem sie tanzten, war Marmor, Stein und Eisen bricht.

1992 ließen sie sich scheiden.

Das macht aber gar nichts. Der Schönheit dieses einen Augenblickes habe ich es zu verdanken, dass ich hier sitzen und meine Sorgen über die Französische Revolution und Picassos Auswirkungen auf die Literaturgeschichte groß finden kann.

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H.M.M. 2005

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hallo m.!

Es waren keine 14 achterl sondern 4terl
aber eine schöne Geschichte von der man sich nur das positive herausnehmen soll, wie du es tust,
super.
Du könntest ja richtige Bücher schreiben
gr Papa