Dazu kann ich nur sagen, einfach unglaublich. Philipp, die Hauptperson und doch nur der letzte Rest einer einst großen Familie, ist der Typ, den wir alle aus dem echten Leben kennen und der uns mächtig auf den Sack geht, weil er nix auf die Reihe kriegt. Aber er ist allgegenwärtig, zudem noch Erbe. Und Enkel eines ehemaligen Ministers aus den 50er-Jahren, der den Staatsvertrag mit ausverhandelt hat, aber auf allen Fotos fehlt. Wegen einem eitrigen Zahn.
Arno Geigers Es geht uns gut ist ein Roman, den ich in einer Woche gelesen habe, 400 Seiten. Sogar morgens in der Ubahn hab ich ihn gleich als erstes rausgekramt, obwohl ich sonst zum Lesen zu müde bin und nur ein bissl schaue, was die Gratiszeitungen so verbrechen.
Die Idee ist gut und groß. Der Autor gliedert den Roman in 21 Kapitel, die mit Daten überschrieben sind und jeweils einen einzelnen Tag im Leben der Familie Sterk beschreiben.
Diese Tage reichen vom 6. August 1938 bis zum 9. Oktober 1989, die eigentliche Handlung (Philipps) spielt im Frühjahr 2001. Die einzelne Tage werden jeweils aus der Sicht eines anderen Familienmitgliedes beschrieben.
Sowas mag ich, ich bin da ja ganz sentimental. Vergangenheit, Gegenwart, das Leben als Ganzes besehen. Großeltern, die als typisch österreichisch beschrieben werden können, vielmehr als typisch wienerisch. Mann im Ministerium, Frau Hausfrau, 2 Kinder, Villa in der Nähe des Lainzer Tiergartens, Kindermädchen, Bienenzucht, rosige Zeiten, Verfall, Tod.
Man liest und sieht. Erstens dass man nicht willkürlich so geworden ist, wie man ist. Dass hinter jeder Existenz und hinter jedem Lebensentwurf eine Familiengeschichte steckt, die man zu beachten hat. Die man nicht verleugnen kann, die wirkt. Die man vielleicht gar nicht kennt, weil man stets denkt, durch Zufall in die Welt geworfen zu sein, ganz für sich.
Menschen wie Philipp sind nicht umsonst so geworden, fast bewegungslos.
Am sympathischsten und am traurigsten fand ich die Gestalt seiner Mutter, Ingrid. Sie rebelliert als junges Mädchen bereits gegen ihren starren Vater, wird nach langem Studium Ärztin, heiratet unstandesgemäß einen Loser, der sein Leben erst auf die Reihe kriegt, als sie selbst in der Donau ertrinkt (ein schockierendes Ereignis im Verlauf der Geschichte, das sich mir erst später erschlossen hat) und ihm zwei kleine Kinder hinterlässt.
Man liest und wundert sich. Woher der junge Kerl, der das geschrieben hat, diese Dinge weiß, von denen er so eindringlich schreibt. Woher nimmt er den Mut, das Leben als Ganzes zu begreifen und den Atem, diese Erkenntisse auch aufzuschreiben.
Arno Geiger: Es geht uns gut, dtv 2005.
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