Donnerstag, November 23

1 Interview

Ich sitze in der Küche am Fensterbrett.

Ich sage: „Ich muss die Ida interviewen gehen.“

„Brauchst du eine Quelle?“

„Nein.“

„Warum dann?“

„Ich sehe sie jeden Tag vorbeigehen und bin entzückt. Aber an keinem Tag kann ich einen ganzen Menschen aus ihrem Gesicht herauslesen. Ich will sie beschreiben, damit ich sie nicht jeden Tag anstarren muss. Ich brauche in Bild von ihr, in dem kein Puzzleteil fehlt. Mir fehlt die Ruhe.“

„Darum musst du sie interviewen gehen?“

Meine beste Freundin schenkt sich zuviel Milch in den Kaffee.

„Darum muss ich sie interviewen gehen.“

So viel, dass er mir nicht mehr schmeckt. Ich gewöhne mir die Milch im Kaffee ab, ganz langsam. Jeden Tag beim Frühstück schenke ich mir weniger Milch in den Kaffee. Dasselbe habe ich mit dem Zucker gemacht. Jetzt ist der Zucker weg. Jetzt kommt die Milch dran. Ich zünde mir eine Zigarette an und lege sie in den Aschenbecher. Mit den Zigaretten werde ich es nie so machen. Im Aschenbecher liegen die Reste von einem Apfelputz. Jemand war dagewesen und hatte wie jeden Tag sein Müsli mit Apfelstückchen gegessen. Bevor er die Milch darübergeschüttet hat, habe ich mir ein Apfelstück aus seiner Schüssel gefischt.

„Was wirst du sie fragen?“

„Ich lasse sie einfach reden.“

Manchmal kommt sie zu mir und fragt mich einen Satz. Meine Antwort dauert auch einen Satz, danach steht sie auf und geht wieder. Sie fragt: „Warum hast du eigentlich nichts mit dem blonden Typen?“ Ich sage: „Ich liebe den mit den Apfelstückchen.“ Sie lacht.

Wenn sie aus dem Lift steigt, sage ich jedes Mal: „Hallo Süße.“ Sie ist es nicht. Sie ist mehr. Ihre Haare sind lang und manchmal richtig schöne Locken. Sie sieht an jedem Tag anders aus. Ich habe nicht durchschaut, warum. Immer wenn ich sie sehe, betrachte ich sie genau. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln und suche nach Zeichen. Die mir die Gedanken hinter dem Gesicht mit den feinen Linien sichtbar machen.

Ich stehe auf, klopfe an ihre Tür und frage sie um eine Zigarette. Ich sehe eine Packung auf einem Tischchen liegen, gleich neben der Bong. Sie sitzt am Schreibtisch in einem rosa Pullover, der nicht mädchenhaft aussieht. Auf ihrem Bildschirm leuchten blaue kroatische Buchstaben. Sie schreibt in einen Kollegeblock, auf kroatisch. Ihr Zimmer ist zugepflastert mit Gedichten, die ich nicht lesen kann. Sie hat sie mit Eddingstift an die Wände und Kastentüren gemalt. Überall hängen Fotos, überall stehen Kerzen herum. Wozu braucht man Kerzen?

Sie sagt: „Nimm dir gleich drei oder vier. Ich rauche sie sowieso nicht.“

„Wie geht es deiner Liebe“, sage ich und sehe aus dem Fenster in die Leere.

„Es ist keine große Liebe, deshalb ist sie einfach. Sie strengt mich nicht an.“

Ich setze mich und zünde eine der vier Zigaretten an. Die anderen lege ich neben eine gelbe, brennende Kerze. Es ist halb drei Uhr nachmittags.











„Die großen Lieben habe ich satt. Du musst jeden Tag daran denken und es frisst dich auf. Du bist traurig und weinst die ganze Zeit. Solche Lieben kleben an dir, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Diese Liebe lebt bescheiden und ich fühle mich frei, weil ich nicht davon abhänge.“

„Wann fährt er wieder?“

„Er bleibt noch ein Jahr. Er arbeitet in diesem Bunker, Arsenal.“

„Was macht er dort?“

„Keine Ahnung.“ Sie zuckt mit den Schulter und dreht sich zu mir. „Es ist nicht anstrengend. Aber auch nicht aufregend.“

Ich denke an hellgelbe und hellgrüne Apfelstückchen.

Sie fragt mich, ob ich irgendetwas Auffälliges rieche. „Er hat so lange Beine und damit hat er heut nacht die Bong umgeworfen. Das hat gestunken, sage ich dir.“

Ich rieche nichts.

„Gestern hat er eine Gehaltserhöung gekriegt. Ich werde meinen Chef auch um eine bitten. Aber er zahlt mir ohnehin sehr viel fürs Nichtstun. Um halb drei sperren wir auf und um halb vier ist alles verkauft. Dann sitze ich dort und höre ihm zu.“

Ich hänge an ihren Lippen.

„Mein Chef hat Geschichte studiert und ist sehr niveauvoll. Das Lokal geht schon seit zwei Jahren. Ich kenne niemanden mit einem solchen Lokal, der so niveauvoll ist. Dann geht er meistens und ich bleibe noch eine Weile, damit die Stammkundschaft nicht angefressen ist, wenn es nichts mehr zu kaufen gibt. Ich sage ihnen dann andere Adressen, wo man vielleicht noch was kriegen kann.“

Dafür kriegt sie 50 Euro. Ich weiß es. Ich war selbst nie dort.

„Was machst du, wenn der mit den langen Beinen wieder heimfährt?“

„Das ist das Schöne daran. Er wird nie auf die Idee kommen, mich zu fragen, ob ich ihn heiraten will. Da muss ich mich nicht aufregen.“

Ihre Augenbrauen sind geschwungen, ihr Nagellack dunkelrot, er blättert langsam ab. Sie dreht den CD-Player auf. Ich kenne das Lied nicht. Meine Zigarette ist halb aufgeraucht.

„Den Votivpark haben sie aufgeräumt, dort steht kein einziger mehr. Ich habe mich früher schon gewundert, warum das geduldet wird. Aber dann habe ich mir überlegt, wie das politisch motiviert ist. Sie lassen ein paar stehen, damit die Leute mit dem Finger darauf zeigen können. Und sagen: Das machen nur Schwarze. Jetzt ist es ein ganz normaler Park. Man sieht nichts mehr.“

Dann zündet sie sich auch eine von meinen vier geschnorrten Zigaretten an.



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H.M.M. 2005

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